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Die Rattenpopulation wird zunehmen

Von Thomas Schmoll

Immer wieder geistern Horrorgeschichten über extreme Rattenansammlungen durch Volk und Medien. Tatsächlich werden die Schädlinge häufiger als früher am Tag gesichtet. Aber kann von einer Plage die Rede sein?

Die Schlagzeilen machen ungute Gefühle. Sie lauten „Rattenplage in der Ennepetaler Innenstadt“, „Ratte in der Kloschüssel“, „Ratten auf dem Vormarsch“, „Angst vor Rattenplage in Felsberg“ oder auch „Rattenplage auf Spielplatz in Oberrheinfelden hält an“. Die „Bild“-Zeitung schlug „Rattenalarm in Deutschlands Großstädten“. Tatsächlich gibt es derlei Berichte aus vielen Ecken der Republik, häufig garniert mit Schauder-Zitaten aufgeschreckter Bürger.

Also Rattenalarm in Deutschland? Den Eindruck kann man durchaus gewinnen. Mancherorts nimmt die Population offenbar zu. Die Zahl der Einsätze gegen die Krankheitsüberträger ist in weiten Teilen Deutschlands in den vergangenen Jahren angestiegen. Vor allem Berlin macht von sich reden. Hier verzeichneten die Behörden 2016 rund 9100 Einzelmaßnahmen gegen Ratten. 2011 waren es etwa 7100. Die Berliner Unternehmen des Deutschen Schädlingsbekämpfer-Verbandes rückten nach dessen Angaben den Nagern im vergangenen Jahr beinahe 12.000 Mal zu Leibe.

Trotzdem warnen Experten vor Panik und sind selbst bei dem Begriff „Plage“ vorsichtig, jedenfalls im Sinne einer quasi unkontrollierbaren Situation. Sie bezeichnen die Lage – bisher jedenfalls – als beherrschbar, betonen aber auch, dass der Aufwand von Jahr zu Jahr wächst. Wie viele der Viecher, die vielen Menschen ein Graus sind, in einer Stadt leben, weiß niemand. Experten rechnen pro Einwohner mit einer Ratte oder zwei, manche gehen von mehr aus. In Berlin wohnen offiziell nahezu 3,7 Millionen Menschen, hinzu kommen Heerscharen von Tagesgästen. Also müssten es 3,7 oder 7,4 Millionen dieser Tiere sein – wenn nicht noch mehr.

Einfache Nahrungssuche

Der Berliner Schädlingsbekämpfer Michael Hermann, studierter Biologe mit Doktortitel, ist sich sicher: „Es gibt mehr Ratten als früher.“ Auch er macht das an der ständigen Zunahme seiner Einsätze zur Bekämpfung der schlauen Nager fest. „Die milden Winter erhöhen die Überlebenschancen der Tiere. Der andere entscheidende Grund ist ein reich gedeckter Tisch durch weggeworfene Essensreste und – wenn auch in guter Absicht  zu viel ausgebrachtes Vogelfutter.“ Gemeint sind Sorglosigkeit bei der Müllentsorgung, die Kehrseiten von Fastfood und Massentourismus. „Ratten müssen sich nicht mehr anstrengen, Nahrung zu besorgen“, betont Hermann.

Der Biologe Jona Freise, der den Fachbereich Schädlingsbekämpfung beim Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Oldenburg leitet, hatte vor zwei Jahren gesagt: „Von einer Plage kann nicht die Rede sein. Das hieße, wir würden die Population nicht mehr beherrschen. Die Bekämpfung der Nagetiere wird schwieriger, aufwändiger und teurer. Aber wenn sie vernünftig funktioniert, gibt es kein Problem.“ Hat sich an dieser Einschätzung etwas geändert? „Nein“, sagt Freise gegenüber n-tv.de. Allerdings bereite der leichtsinnige Umgang mit Resten von Essen aus Imbissen und Schnellrestaurants Sorge. „Das stellt eine weitere, immer verfügbare Nahrungsquelle für Nagetiere dar.“

Eine Folge davon ist, dass Ratten insbesondere in Großstädten mehr tagsüber anzutreffen sind. Verschärft wird das dadurch, dass Baulücken in Städten geschlossen werden. Das treibt die Tiere in Grünanlagen, wo Müllbehälter prall gefüllt sind mit Speisen. „Ratten sind auch schon früher tagsüber rausgekommen“, sagt Hermann. „Nach meiner Beobachtung ist es aber tatsächlich so, dass die Schädlinge häufiger als früher am Tag zu sehen sind. Dadurch werden die Leute direkter und stärker mit der Problematik konfrontiert.“

Rattenkot im Sandkasten

Offenkundig verlieren Ratten mancherorts die Scheu vor den Menschen. In Berlin wurden Ratten gesichtet, die sich am helllichten Tag ausgestreutes Vogelfutter mit Tauben teilen. Das wiederum erzeugt ein mulmiges Gefühl in der Bevölkerung. „Hinzu kommen abgesperrte Kinderspielplätze, die das negative Empfinden verstärken“, sagt Hermann.

Dieses Jahr sind in Berlin ungewöhnlich viele Areale in öffentlichen Parks zwecks Rattenbekämpfung gesperrt worden. Nach Angaben des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) waren allein im Bezirk Mitte, der weit über das eigentliche Zentrum der Stadt hinausgeht, rund 8000 Quadratmeter betroffen. Kammerjäger berichten von Unmutsbekundungen von Eltern, die vor eingezäunten Spielplätzen stehen und über ein Amtsblatt von der Ausstreuung von Ködern erfahren. Experten betonen: „Viel gefährlicher ist Rattenkot im Sandkasten.“

Detlef Kadler, im LaGeSo verantwortlich für Schädlingsbekämpfung, warnt schon seit Jahren vor Angstmacherei. „Es ist nachvollziehbar, dass ein ​Tourist oder Gast eines Cafés in Panik gerät, wenn er – vor allem am Tag – eine Ratte sieht. Aber in einer Großstadt mit Millionen Einwohnern und Besuchern, die alle Abfall produzieren und diesen nicht immer ordnungsgemäß entsorgen, leben nun einmal Ratten.“ Berlin tut nach seinen Worten viel und geht sofort gegen die Schädlinge vor, wenn eine Meldung aus der Bevölkerung vorliegt. „Die Stadt hat die bundesweit schärfste Verordnung zum Umgang mit dieser Thematik.“

Das viel zu große Nahrungsangebot für Ratten als Folge städtischer Vermüllung, das nicht nur in Berlin ein großes Problem ist, führt dazu, dass es für Schädlingsbekämpfer schwieriger wird, den Tieren ihre Köder schmackhaft zu machen. „Durch des Herumliegen von Lebensmittelresten werden die Köderstationen oftmals erst nach längerer Zeit angenommen“, berichtet Kadler. Viele Kammerjäger klagen über die vor fünf Jahren verschärften EU-Vorschriften zum Schutz anderer Tiere. Sie dürfen selbst hergestellte Köder nicht mehr verwenden. Dies erschwere ihre Arbeit und führe zu weit mehr Einsätzen als früher.

Hermann sagt, die Zahl der Maßnahmen an einem einzigen Ort hänge in erster Linie von der Qualität der Schädlingsbekämpfung ab. Allerdings unterstreicht er: „Fest steht, dass die Anzahl der Rattenbekämpfungen von Jahr zu Jahr zunimmt. Das wird wohl auch so bleiben.“ Warum? „Weil die Population in innerstädtischen Bereichen weiter zunehmen wird.“

Quelle: https://www.n-tv.de/panorama/Die-Rattenpopulation-wird-zunehmen-article20138242.html

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